Komm, Heilger Geist, mit deiner Kraft

Klaus Okonek und Hans-Joachim Raile, beide am Canisius-Kolleg in Berlin tätig, veranstalteten in den 1970er-Jahren gemeinsam Beatmessen als neues liturgisches Format. Auf der Grundlage des ältesten westlichen Pfingstliedes Veni Creator spiritus (Hrabanus Maurus, um 809 n. Chr.) schufen sie den deutschen Liedtext Komm, Heilger Geist, mit deiner Kraft. Bereits Martin Luther hatte den alten Hymnus ins Deutsche übertragen und aktualisiert: Komm, Gott Schöpfer, Heilger Geist. Seit den 1980er-Jahren ist das Lied in zahlreichen Liederbüchern mit unterschiedlichsten Zielgruppen und im ökumenischen Kontext veröffentlicht, u. a. in Du bist Herr, Lebenslieder, im Evangelischen Gesangbuch Bayern/Thüringen sowie im Kinder-Gotteslob. Die teils in Liedbüchern zu findende Zuordnung der Melodie zu Sarah Levy-Tanai ist nicht belegbar. Tatsächlich hat Levy-Tanai 1944 die weitaus ältere volkstümliche Melodie erstmals nachweislich musikalisch und tänzerisch aufgeführt, interpretiert und publiziert.

Der Liedtext entfaltet in allen drei Strophen in einer einfachen Kehrvers-Struktur kraftvolle Bilder für das Wirken des Heiligen Geistes. In den ersten beiden Strophen stehen Feuer und Sturmwind im Mittelpunkt – Bilder, die sowohl für zerstörerische Naturgewalten als auch für Kräfte der Erneuerung stehen: Feuer wärmt und macht hell, Wind steht für Frische, Kraft und den lebensspendenden Atem. Wo der Heilige Geist Raum bekommt, kann er wie Feuer und Wind kraftvoll wirken. Die dritte Strophe mündet in die Bitte um Gottes Liebe – ohne sie bleibt jeder noch so kraftvolle Impuls leer. Liebe führt Menschen zusammen („alle sprechen eine Sprache, wenn ein Mensch den anderen liebt“), schafft Verständigung und Erneuerung über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg.

Die Melodie entstammt einem jüdischen Volkslied und kann so auch eine musikalische Brücke zum Judentum schlagen. Der Moll-Melodiegang folgt der klar gegliederten Textstruktur (aabb‘) und besteht aus vier viertaktigen Phrasen. Sie umfasst – abgesehen von zwei kleinen „Schlenkern“ zur Untersekunde – nur den Quintraum über dem Grundton. Die ersten beiden und die letzte Phrase führen zurück zur Grundtonart (Tonika), nur die dritte Phrase bleibt in ihrer Wirkung am Ende offen (Dominante). Die Melodie ist leicht fassbar, lebendig und kraftvoll und animiert zu Bewegung und Tanz.

Dem Lied gelingt es – im Gegensatz zu vielen älteren, sehr komplexen Gesängen – in einer leichten und sehr verständlichen Weise vom Heiligen Geist zu sprechen und zu singen. Es passt selbstverständlich hervorragend in alle Pfingstzusammenhänge, kann aber ebenso gut als Bittlied um den Heiligen Geist außerhalb des Pfingstkreises verwendet werden. Zwar ist es kein Kinderlied, doch sind seine Bilder und die klare Sprache so gut verständlich, dass es auch von älteren Kindern gesungen werden kann. Damit eignet es sich besonders für das generationenverbindende Singen.